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Das Licht über Nadarel – Teil 1: Der Aufbruch

created Thursday October 16, 07:35 by Jorim Hirsbrunner


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Die Nacht lag wie ein kühles Tuch über dem Tal, und die alten Steine von Nadarel atmeten leise. Die Festung hatte viele Winter gesehen und noch mehr Sommer, und doch stand sie da, als hätte sie einen Eid geschworen, die Zeit nicht in ihr Herz zu lassen. Auf den Mauern brannten wenige Fackeln, und ihr Schein hing wie warmer Nebel an den Zinnen. Unten im Hof führte ein schmaler Weg zur Kapelle, deren Tür offenstand. Drinnen flackerte eine einzelne Kerze vor dem einfachen Holzaltar, und das kleine Licht sah aus wie der Atem eines schlafenden Kindes.
 
Elion kniete auf der Bank, legte seine Hand auf das Schwert an seiner Seite und schloss die Augen. Es war still, doch in der Stille hörte er mehr als im lauten Wind der Berge. Er hörte das feine Kratzen der Kerzenflamme, das leise Knistern eines alten Balkens und über allem das ruhige Schlagen seines Herzens. Er sagte kein lautes Gebet, aber er dachte: Herr, gib mir den Mut, den ich brauche, und die Demut, die ich vergesse. Gib mir ein offenes Ohr und feste Schritte.
 
Als er wieder aufstand, ging er zur Tür und blieb kurz im Rahmen stehen. Über den Hügeln hatte der Himmel eine zarte Spur von Grau bekommen, die versprach, dass der Morgen kommen würde. Zwischen zwei Wolken blinkte ein einsamer Stern, nicht hell, aber treu. Elion nickte ihm zu, als grüsse er einen Freund, und trat in den Hof.
 
Am Brunnen stand eine junge Frau und füllte einen Krug. Ihr Mantel schimmerte leicht im Fackellicht, und in ihren Augen lag die Müdigkeit einer langen Nacht, aber auch ein stilles Lächeln. Sie hiess Liah und war eine der Hüterinnen der Festung, keine Kriegerin, und doch hatte sie oft mehr Mut gezeigt als mancher, der ein Schwert trug.
 
"Du bist früh wach", sagte sie.
 
"Der Morgen weckt mich, bevor die Sonne es tut", antwortete Elion. "Und heute noch mehr. Es fühlt sich an, als hätte der Tag etwas vor mit uns."
 
"Die Sterne standen hell, als hätte jemand sie neu angezündet", meinte Liah. "Vielleicht ist es nur das Wetter. Vielleicht mehr. Willst du Wasser?"
 
Elion nickte dankbar und trank. "Ich breche auf, wenn der erste Klang im Tal wach wird", sagte er. "Der Goldene Stern ist gefunden, und doch bleibt mein Weg lang. Manche sagen, die nächsten Fragmente seien dort, wo kein Lied mehr getragen wird."
 
"Vielleicht singt der Stein", sagte Liah leise. "Oder das, was in ihm ruht."
 
Vom Tor her kam das Klappern eines Riegels. Zwei Männer rollten Fässer in den Hof, und die Festung erwachte.
 
"Ich werde für dich beten", sagte Liah, als Elion sich abwandte.
 
"Tu das auch für uns alle", sagte Elion. "Ein Herz allein kann nicht tragen, was das Land braucht."
 
Er stieg die Stufen zur Mauer hinauf. Der Morgen stand nun wie ein heller Saum am Rand der Welt. Das Tal lag darunter wie ein ruhiger See, und weit hinten, wo die Berge die Sterne küssten, glomm ein kaltes Blau, das nicht von dieser Welt war. Elion wusste, dass dort ein Ort lag, der keinen Namen trug und doch in allen Liedern vorkam die Stätte hinter dem Wind.
 
Er sattelte sein Pferd. Der Torwächter gab ihm ein Bündel Brot, Käse, Kräuter, ein paar Nägel, Nadel und Faden. "Geh mit Gott", sagte der Wächter.
 
"Und du bleib mit ihm", antwortete Elion.
 
Der Weg führte an Feldern vorbei, die noch schliefen. Zwischen den Ähren perlte Tau, und die ersten Vögel schrieben feine Linien in die Luft. Hinter einer Hecke lehnte ein alter Pflug, und auf einem Stein saß ein Junge, der einen Stock wie ein Schwert hielt.
 
"Soldat?" fragte Elion.
 
"Manchmal bin ich auch König", grinste der Junge.
 
"Ein guter König ist zuerst ein Diener", sagte Elion.
 
Der Junge nickte. "Wirst du gegen das Dunkel kämpfen?"
 
"Ich gehe, wohin mein Weg mich führt. Wenn das Dunkel dort steht, werde ich nicht umkehren."
 
"Ich werde für dich warten", sagte der Junge.
 
"Wartee nicht, lebe", antwortete Elion. "Lerne, was recht ist, liebe, was gut ist, und halte dein Wort."
 
Er ritt weiter. Die Sonne kam über den Rand der Hügel, und ihr Licht fiel auf die Steine, als lege eine Hand eine Decke über kalte Schultern.
 
Im Wald, der folgte, lag eine Lichtung. In ihrer Mitte stand ein glatter Stein mit Zeichen darauf. Als Elion ihn berührte, vibrierte die Luft.
 
"Du hast den Turm des Goldenen Sterns geweckt", sagte eine Stimme. Eine Frau trat aus dem Schatten. "Ich bin Serathiel."
 
"Warum hilfst du mir?" fragte Elion.
 
"Ich helfe dem Weg", sagte sie. "Und du gehst ihn."
 
Sie wies auf die Zeichen. "Lies mit dem Herzen."
 
Er schloss die Augen und hörte: Folge dem Wasser, das nicht fließt. Suche den Klang, der nicht laut wird. Öffne die Tür, die du nicht berührst.
 
"Ein Rätsel", sagte Elion.
 
"Eine Anleitung", erwiderte Serathiel. "Der See oberhalb der drei Stufen hat keine Quelle, und doch wird er nicht leer. Dort wirst du den Schlüssel finden."
 
Sie verschwand, wie Nebel, der sich an Licht erinnert.
 
Elion ritt weiter, bis er den See fand ruhig, klar und ohne Zufluss. Als er seine Hand eintauchte, sah er in der Tiefe eine Halle mit einem Kreis und einem schwebenden Licht. Er sprach: "Wenn dies gut ist, öffne es."
 
Das Licht senkte sich in seine Hand, und er hörte eine Stimme: Du bist nicht allein. Eine zweite flüsterte: Und du bist nicht genug.
 
In der Schale vor ihm lag ein Splitter. Als er ihn aufhob, hörte er Schritte.
 
Ein Mann trat ein, grau gekleidet, müde.
 
"Du bist spät", sagte Elion.
 
"Ich war früh und habe mich verlaufen", antwortete der Mann. "Man nannte mich einmal Kuro."
 
Elion nickte. "Ich habe dich im Rauch verschwinden sehen."
 
"Viele sagen das", sagte Kuro. "Aber das ist nicht wichtig. Wichtig ist, was du trägst."
 
Er deutete auf den Splitter. "Das ist nicht der Stern, aber er ruft ihn. Du wirst ihn brauchen. Und vergiss nicht, warum du begonnen hast."
 
Elion lächelte leicht. "Ich werde versuchen, gerade zu bleiben, auch wenn der Weg es nicht ist."
 
"Das reicht für heute", sagte Kuro und verschwand.
 
Elion trat hinaus. Der See lag wieder still, als wäre nichts geschehen.
 
Ende von Teil 1.

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